Frühjahr 2024

Doris Knecht, Podcast, f. Barbara Haas, v. Christoph Kleinsasser

Doris Knecht
Gedankenspiele über die Ruhe
48 Seiten, ET 15. März 2024

Vor einiger Zeit schlug Doris Knecht in einer ihrer Kolumnen die Abschaffung des Ruhe-Abteils im Zug vor. Sie fand, es mache allen Stress, denn etwas derartiges wie Ruhe existiere nicht, da sie für jeden Menschen etwas anderes bedeutet. Stört nicht das, was die eine als leise und ruhig empfindet, den anderen bereits massiv? Was ist Ruhe genau, wie lässt sie sich definieren und messen? Knecht fand, jede könne sich ihren stillen Ort mithilfe eines schallschluckenden Kopfhörers selber bauen, jeder sei seiner eigenen Ruhe Schmied. Ruhe sei etwas, das man von anderen nicht verlangen könne, sich selber schaffen müsse.
Das kam nicht gut an. Wenn man den Menschen ihre Ruhe streitig macht, können sie, stellte Knecht fest, ganz schön unruhig werden. Und sie fing an, darüber nachzudenken, was das ist: Ruhe. Was Ruhe für sie selbst bedeutet. Und wo sie Ruhe sucht und findet.

Herbst 2024

Davis, Lydia (c) Theo Cote (1)-Ausschnitt

Lydia Davis
Unsere Fremden. Stories
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jan Wilm
ca. 350 Seiten, ET August 2024
Lydia Davis ist eine Virtuosin darin, die scheinbar beiläufigen, unbedeutenden Überraschungen des täglichen Lebens aufzuspüren und sie zu untersuchen. In Unsere Fremden werden Gespräche belauscht und falsch verstanden, ein Eilbrief wird mit einem seltenen weißen Schmetterling verwechselt und dahingemurmelte Bemerkungen bringen Probleme in eine Ehe. Mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe können bei Lydia Davis Fremde zu Familienmitgliedern und Familienmitglieder zu Fremden werden.

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Max Oravin
Toni & Toni. Roman
112 Seiten, ET August 2024
Toni und Toni entwickelten vor einiger Zeit eine Tanzperformance und standen kurz vor dem großen Durchbruch – bis ein Unfall nach der Generalprobe in einer euphorisierten Nacht in einem Wiener Club alles änderte. Seither suchen die beiden ihren Weg zurück ins gemeinsame Leben. Toni & Toni gleicht einer durchkomponierten Choreografie; mit seiner überwältigenden, rhythmischen Sprache gleitet der Text elegant zwischen Gegenwart und intensiven Erinnerungsbildern. Von stillen, beinahe meditativen Schilderungen bis hin zum rauschhaften Ausbruch fängt dieser imposante Debütroman Leidenschaft, Ekstase und tiefsitzende Zerrissenheiten ein.

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Eva Maria Leuenberger
die spinne
96 Seiten, ET August 2024
Die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin Eva Maria Leuenberger ist bekannt für ihre unter die Haut gehenden Texte. In ihrem neuen Buch, die spinne, werden alle Schutzhüllen abgelegt und der Realität fest ins Auge geblickt. Etwas Endzeitliches haftet dem Langgedicht an, das unter anderem die Zerstörung der Natur verhandelt. Ohne jeglichen Moralismus schildert Eva Maria Leuenberger, was mit dem Ich und dem Körper geschieht, wenn das eigene Bewusstsein die kollektive Schuld entdeckt. die spinne tastet die Gefühle von Schuld und Scham, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit körperlich ab.

Autor Christoph Dolgan

Christoph Dolgan
Blitzeisidentität. Erzählungen
256 Seiten, ET August 2024
Eine Primarin stellt einem Journalisten in herrlich-unterhaltsamer, phrasendreschender Weise die neu umgebaute Einrichtung vor; ein Erzähler passt über ein Wochenende auf den Sohn seiner Schwester auf und sie spielen ein wahnwitzig, irrsinnig und kaum durchschaubares Spiel; eine polnische Pflegekraft kümmert sich wochenweise um einen alten Professor und hilft ihm bei einer besonderen Sammlung; Morthoff ist auf der Suche nach – literarischem – Stoff und findet sich in einer noir-hardboiled Persiflage wieder; und vieles mehr. Christoph Dolgans erster Erzählungsband strotzt nur so vor Originalität und Facettenreichtum – von Sozialkritik über verspielt-ironische Texte bis hin zu erstaunlichen Beobachtungsbildern.

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Ilse Helbich
Schwalbenschrift. Roman
248 Seiten, ET Oktober 2024
Ilse Helbichs erstes Buch aus dem Jahr 2003 jetzt in neuer Ausgabe bei Droschl:
»Gibt es das einmalige, bezeichenbare Ereignis, das einen Lebensweg in eine neue Richtung dreht?«
In ihrem autobiografischen Debütroman blickt Ilse Helbich insbesondere auf die erste Hälfte ihres Lebens zurück: 1923 hineingeboren in eine Wiener Industriellenfamilie und patriarchal geprägte Zeit, aufgewachsen zwischen Goldenen Zwanzigern, Wirtschaftschaftskrise und Nationalsozialismus. Ohne Verklärungen berichtet das Buch vom Großwerden und der Selbstwerdung, vom kleinen Kind zur promovierten Frau, von der Liebe, Ehe und Mutterschaft, erzählt von Irrwegen und den Schrecken des Krieges, fragt nach Gerechtigkeit und Glaubenswegen. Ein eindrucksvolles, ergreifendes Zeitzeugnis.

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Monika Helfer
Gedankenspiele über die Familie
48 Seiten, ET Oktober 2024
Monika Helfer entwirft in ihren Gedankenspielen 16 Szenen aus Familien. Sie zeigt Wege, eine Familie zu gründen, sie zu verlassen, zu zerstören und zu retten. In den kurzen, aber großen Erzählungen geht es um Existenzielles, Wende- und Kipppunkte, Liebe und Trennung, Leben und Sterben, um Auskommen und Wegkommen. Sie bewegen sich nuancenreich zwischen Direktheit und Sanftheit und lassen sich nicht auf die eine eindeutige Lesart festlegen. Die Doppelbödigkeit und das Ungewisse sorgen dafür, dass auch nach Ende der Lektüre die empathisch und mit viel Menschenkenntnis geschilderten Familienschicksale weiter im Kopf herumkreisen.

Franz Schuh

Franz Schuh
Gedankenspiele über das Herz
48 Seiten, ET Oktober 2024
Es gibt überhaupt kein Hauptwort, das metaphorisch so ausgebeutet wird wie »das Herz«. Man nimmt sich etwas zu Herzen bis zu den herzlichen Grüßen. Bei so viel Herzlichkeit unter den Menschen ist es kein Wunder, dass diese Überbetonung einem Menschenkenner wie Lichtenberg nicht ans Herz, sondern auf die Nerven
geht: »Was sie Herz nennen liegt weit niedriger als der 4. Westenknopf.«
Aber es ist auch kein Wunder, dass das Herz unsere Metaphern(un)ordnung dominiert: Es geht mit dem Herzen um Leben und Tod, das Herz gibt es wirklich: Es steht bei aller metaphorischen Überbeanspruchung auch dem chirurgischen Eingriff, ja sogar der »Herztransplantation« offen.

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