Buchcover
Georgi Gospodinov

Physik der Schwermut

Roman
2014
gebunden , 13 x 21 cm
336 Seiten
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
ISBN: 9783854208495
€ 23,00
als ebook erhältlich

AUTOREN

Textauszug

Wie nennt man die Obsession, ständig Listen anzulegen, in Listen zu denken, in Listen zu erzählen? Was für eine Art von Devianz ist das?

Ich beeile mich, alles aufzuschreiben, im Notizbuch in Sicherheit zu bringen, so wie man sich beeilt, die Lämmer ins Trockene zu bringen, bevor der Sturm losbricht. Ich verliere immer schneller das Gedächtnis für Namen und Gesichter. Das ist sicher eine Erklärung. So äußerte sich auch die Krankheit meines Vaters am Ende. Einer mit einem großen Radiergummi kam und radierte alles aus, von hinten nach vorn. Zuerst vergisst du, was gestern gewesen ist, zuletzt geht das, was am weitesten zurückliegt. In diesem Sinne stirbst du immer in deiner Kindheit.

Mein Vater ging aus dem Haus und verirrte sich in den Straßen wie ein Kind in einer fremden Stadt. Gut, dass das Städtchen klein war, die Leute kannten ihn und brachten ihn zurück. Am häufigsten fanden sie ihn am Bahnhof. Er sah sich die Züge an. Einmal, ich war für kurze Zeit zurückgekommen, ging ich ihm nach und beobachtete ihn. Wenn der Zug im Bahnhof hielt, stand er auf und machte sich auf den Weg zu den offenen Türen, danach verlangsamte er seine Schritte, blieb stehen, sah sich hilflos um wie ein Mensch, der den Sinn seiner Reise plötzlich vergessen oder an ihrem Sinn zu zweifeln begonnen hat, und mit unsicheren Schritten begab er sich zurück auf seinen Platz. Das wiederholte sich bei jedem Zug.

Mein Alptraum ist es, dass ich eines Tages auf dieselbe Art an irgendeinem Flughafen stehen werde, die Flugzeuge werden landen und abfliegen, und ich werde mich nicht daran erinnern können, wohin ich mich aufgemacht habe. Schlimmer ist, dass ich den Ort vergessen haben werde, zu dem ich zurückwill. Und niemand wird mich erkennen, um mich nach Hause zu bringen.

Der Erzähler von Georgi Gospodinovs zweitem Roman leidet an übergroßer Empathie: er kann und muss sich in alles und jeden einfühlen und erlebt dann, was diese anderen erleben – ob das nun sein Großvater am Beginn des 20. Jahrhunderts war, der kleine in ein Labyrinth weggesperrte Minotauros oder eine Schnecke, die gerade verschluckt wird. Aber auch, dass die Zeit unwiederbringlich vergeht, macht ihm zu schaffen; und er geht mit Zeitkapseln dagegen vor: Behälter, in die alles hineinkommt, was für die Gegenwart wichtig ist. Aber was ist wichtig? Zu diesem Zweck wiederum müssen Listen angelegt werden, eine im alten Ostblock bei Kindern und Jugendlichen ohnehin beliebte Praxis …

Aus zahlreichen kurzen poetischen Kapiteln komponiert Gospodinov einen melancholischen Roman, der – wie oft bei Melancholikern – amüsiert und überrascht, und unterstreicht damit nachhaltig seinen weltliterarischen Rang. Seine Vergegenwärtigung altgriechischer Mythen ist ebenso denkwürdig wie seine Erinnerung an 40 Jahre bulgarischen Kommunismus. Und dass das Festhalten des gegenwärtigen Augenblicks eine vergebliche Aufgabe ist: es hindert ihn nicht daran, sich dieser Aufgabe von Seite zu Seite immer wieder neu zu stellen.

Presse

»Gospodinow katapultiert sich selbst in die erste Liga europäischer Autoren mit einem Buch, dessen ebenso komplexer wie komischer ›Teilchenphysik der Trauer‹ kaum mehr mit Kritik, sondern nur noch mit Begeisterung beizukommen ist. Ein Autor, der sich derart romantisch-kapriziös über die Niederungen von Roman-Kommerz und -Konvention erhebt, rettet nicht nur sich selbst, sondern auch die Literatur und mit ihr die ganze Welt.« (Andreas Breitenstein, NZZ)

»Es bereitet ungeheure Lust, sich in den Gängen und Fluchten der Erinnerung von Gospodinov zu bewegen, um nicht zu sagen zu verlieren… Ein hinreißender Roman.« (Sandra Kegel, FAZ)

»Eine Liebeserklärung an die Fantasie … eine literarische Wundertüte.« (Carmen Eller, Cicero)

»Ein außerordentliches literarisches Erlebnis, mehr noch, ein unentbehrliches Buch für das restliche Leben.« (Werner Krause, Kleine Zeitung)

»Ein Labyrinth, aus dem man nie wieder herausfinden will: weil diese Irrwege zu Herzklopfen und märchenhaften Erkenntnissen führen.« (Ingrid Mylo, Badische Zeitung)

»Georgi Gospodinvos Roman ist ganz große europäische Telepathie-Literatur.« (Christopher Schmidt, Süddeutsche Zeitung)

»Wie klug, amüsant und überraschend Gospodinov eine Geschichte aus der griechischen Mythologie aufgreift und sie mit heutigen Menschen weiterführt, wie er vom Familienleben in Bulgarien vor 1989 und von seinen Reisen in labyrinthisch anmutende Städte nach 1989 erzählt, ist hinreissend poetisch, aber auch politisch.« (Erika Achermann, Berner Zeitung)

»Ein enzyklopädischer Roman.« (Thomas Rothschild, Die Presse)

»Dieses Buch ist irrsinnig. Es ist hanebüchen und hypernervös, sentimental, meditativ, extrem komisch, verstörend, philosophisch wie poetisch, mikroskopisch und größenwahnsinnig. Kurz gesagt: ein tolles Stück.« (Mathias Schnitzler, Berliner Zeitung)

»Was Fernando Pessoa mit seinem Buch der Unruhe schuf, ein literarisches Denkmal für die portugiesische Saudade, dies gelang nun Georgi Gospodinov für Bulgarien mit seiner wunderbaren Physik der Schwermut.« (Thomas Fitzel, WDR3)

»Meisterhaft zu schildern, wie die Zeit über uns hinwegrollt, das macht Gospodinov endgültig zu einem literarischen Genuss.« (Pascal Fischer, Saarländischer Rundfunk)

»Ein Feuerwerk!« (Ralf Borchard, BR2)

»Gospodinov rocks!« (Rezensionen.ch)

Top