Buchcover
Sebastian Kiefer

Was ist eigentlich »ästhetische Moderne«?

ESSAY 64
2011
englische Broschur , 11,5 x 17,5 cm
176 Seiten
ISBN: 9783854207832
€ 15,00
als ebook erhältlich

AUTOREN

Textauszug

Das Kunstbewusstsein in der breitenwirksamen Sparte der Literatur ist nicht annähernd so entwickelt wie in der Musik, der Architektur, der Bildenden Kunst; es können tausende mehr oder weniger linear durcherzählte, auf Einfühlung und szenischer Illusion wie im 19. Jahrhundert beruhende Romane jährlich erscheinen, und es fragt niemand: Warum noch einmal? Niemand fragt: Warum eigentlich Verse? Und eigentlich müsste man ohne Scheu weiterfragen: Warum eigentlich Worte, Sätze – kann so noch eine Exemplifikation von Kunst (im Singular) heute entstehen? Der Legitima-tionsdruck müsste immens sein – und das wiederum müsste die Einbildungskraft und das Nachdenken über Kunst heute, ihren Anspruch auf Eigensinn, die Präsenz des Ganzen der Sprechweisen und das Wissen um Sprache und Bewusstsein heute befeuern – sofern man Kunst im emphatischen Sinne produzieren wollte (was zu wollen natürlich jedermann freisteht. Mit Verständigungskultur ließ sich schon zu Goethes Zeit besser leben).

In allen anderen Künsten wird jedoch jedes Kunstwerk innerhalb eines Feldes oder vor einem Horizont wahrgenommen, und schließlich ist jedem klar, dass man vor einem bestimmten, begrenzten Feld seine Konzepte entwirft, zuletzt jedoch das Ganze der Gestaltungsweisen mit beteiligt ist, unausgesprochen. Jeder Versuch, sagen wir: »Ausdruck« oder eine Zeitgestalt oder eine Raumordnung in einen ästhetischen Begriff zu bringen, wird automatisch im Modus des »Mit-Demonstrierens, weshalb Eigenschaft X heute einen verbindlichen Eigensinn von Kunst stiften kann«, wahrgenommen. Das ist ein Symptom und eine Quelle spezifisch ästhetischer Lust. Und damit sehr modern.

»Moderne Kunst sei selbst- oder sprachreflexiv, experimentell, suche das Neue, zerstöre Konventionen, sei radikal subjektivistisch, medial bewusst, konzeptionell, subversiv, zerstöre das Schöne – die Liste der Kriterien dafür, was eigentlich das Moderne an der ästhetischen Moderne sein soll, ist lang – und identisch mit dem Katalog der gescheiterten Definitionsversuche. Die verwirrende Situation führte dazu, dass »die Moderne« unermüdlich für marginal erklärt oder ganz verabschiedet wurde, obwohl längst niemand mehr weiß, was sie eigentlich ist.

Wovon man sich allerdings nicht verabschieden kann, ist, Maßstäbe zu haben und zu verteidigen. Wer erschüttert in einer Aufführung von Lulu saß, magisch fasziniert vor einer Wärmeplastik Beuys’ stand, in einem Roman von Doderer versank, der kann hinterher niemals sagen: Es hätte genauso gut etwas ganz anderes sein können, jeder andere kann genauso gut anders empfinden, im Museum könnten genauso gut andere Bilder hängen, unsere Kinder könnten genauso gut etwas anderes lesen. Nein, zur emphatischen Kunsterfahrung gehört es, zu glauben und zu fühlen, dass man gerade nicht genauso gut irgendein anderes Werk hätte erfahren können. Je nachhaltiger die Kunsterfahrung ist, desto mehr impliziert sie Verbindlichkeit – für mich und eben auch für andere.

Nur: Wir haben keine Kriterien mehr dafür, um die nachhaltigen Gefühle und Erfahrungen im Umgang mit Kunst zu rechtfertigen. Der Essay erzählt die Vorgeschichte dieser unserer Lage und gibt eine Antwort darauf, was es heute noch heißen kann, diese Gefühle der Verbindlichkeit zu rechtfertigen oder umgekehrt in Frage zu stellen.

Presse

»Ein geistreicher Band« (Urs Allemann, Der Standard)

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