Buchcover
Paul Wühr

Was ich noch vergessen habe

Ein Selbstgespräch
2002
kartoniert , 11,5 x 18 cm
204 Seiten
ESSAY 47
ISBN: 9783854205944
€ 12,00

AUTOREN

HERAUSGEBER

  • Lucas Cejpek

Textauszug

– Mit der Vergangenheit kann ich nichts mehr machen. Ich kann unmittelbar mit ihr nichts mehr anstellen. Das kann ich mit der Zukunft genausowenig – da kann ich die zwei ja austauschen! Das ist ein echtes poetisches Durcheinander! Die Toten sind auch in der Zukunft. Und von dort aus rufen sie zurück in unsere Gegen­wart, und zwar bittend, flehentlich bittend: Erzählt uns! – Das ist für mich eine Poesieformel: Erzählt uns nach! Erzählt uns vor! – Also mein Vater ruft aus der Zukunft: Paul! Wennst von mir erzählst, paß nicht auf! Es braucht nix stimmen! Ich hab ja nur ein Leben leider gehabt! – Daß wir nur ein Leben haben, ist allein schon eine Schande. Ich als Dichter kann damit nicht zufrieden sein. Solange ich lebe, greife ich wenigstens in die Vergangenheit ein. Denn wenn ich tot bin, darf ich überhaupt nichts mehr unmit­telbar tun. Dann bin ich nur noch im Gedächtnis.

– Erzählen ist ungelehrt verdrehen, ist unehrenhaft verlügen, aber verlügen eines anderen, um sein Leben zu vervielfältigen. Lacht Ich mach aus meinem Vater einen Filou! Der alle Kellnerinnen geschwängert hat. Mein Vater grüßt mich aus dem Jenseits und sagt: Pauli, was Schöneres konnte dir gar nicht einfallen. Ich hab mich nie getraut. Ich hab mich nie getraut. Die Paula, deine Mama, hat immer gemeint, ich würds machen, aber ich habs nie gemacht. Ich hab mir immer ein Kondom eingesteckt – die hat sie am Schluß alle erwischt, in seiner Manteltasche und in seiner Hosentasche, als er tot dalag, hat sie die erwischt. Und kam rausgerast, an mir vorbei, mit ihrer Schwester. So ein Schwein!, hat sie geschrien: So ein Schwein, mein Mann! – Da hab ich gesagt: Was ist los? – Ach, das geht dich nichts an! – In seiner Schublade, überall Kondome. Aber warum waren die drin? Weil sie nicht verwendet wurden. Lacht Ich kann aber jetzt erzählen, er war ein unglaublicher Weiberheld. Ist das nicht schön? Der wollte das leben, und ich erzähle sein Leben, genau wie er es wollte.

Acht Jahre nach dem Erscheinen von Wenn man mich so reden hört lässt Paul Wühr nun das, was ich noch vergessen habe, nachfolgen, einen von Lucas Cejpek wieder sorgfältig aufgezeichneten und präzise organisierten Redestrom, ein wunderbares Büchlein »voller überraschender Assoziationen, witzigen und aberwitzigen Ab- und Ausschweifungen, in dem Paul Wühr nicht nur über seinen Schreibfuror redet, sondern auch über seine poetische Lieblingsmethode: die ›Themaverfehlung‹« (Michael Braun).
Stärker noch als im ersten Band kreist die Rede von Wühr um gewisse biografische Strudel und findet in der Wechselrede mit Inge Poppe zu einem unerhört intensiven Ausdruck von Gemeinsamkeit und Ehe.

Die Gleichzeitigkeit von poetologischer Selbstauskunft und Anekdoten aus dem Literaturleben (darunter eine berührende Erinnerung an Gisela Elsner), von Schul- und Kriegsreminiszenzen korrespondiert mit einem ›Sound‹, der durch alle Intensitätsstufen und Tempi geht und doch immer unverwechselbar bleibt. Die Rede Paul Wührs ist von barocker Fülle, sie umspannt auf knappstem Raum das Alleralltäglichste wie das Allerhöchste, ist diskret und schamlos zugleich. Was ich noch vergessen habe bildet wohl eine der vergnüglichsten und anschaulichsten Einführungen in die Poetik eines sogenannten ›schwierigen‹ Autors und gleichzeitig in zentrale Fragestellungen modernen Schreibens.

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