Buchcover
Henri Michaux

Exorzismen

und andere Texte
2008
engl. Broschur , 15 x 21 cm
304 Seiten
Aus dem Französischen von Paul Celan, Dieter Hornig und Kurt Leonhard mit einem Nachwort von Dieter Hornig.
ISBN: 9783854207443
€ 23,00

AUTOREN

Textauszug

Früher war ich recht nervös. Jetzt bin ich auf einem neuen Weg:
Ich lege einen Apfel auf meinen Tisch. Dann verfüge ich mich in den Apfel. Welche Ruhe!
Das sieht einfach aus. Dabei habe ich zwanzig Jahre lang probieren müssen. Und es wäre mir nicht gelungen, wenn ich gleich damit hätte beginnen wollen. Warum wohl? Vielleicht hätte ich mich gedemütigt gefühlt, weil er so klein war und wegen seines undurchsichtigen, langsamen Lebens. Kann sein. Die Gedanken der unteren Schicht sind selten schön.
Ich begann also mit etwas anderem und vereinigte mich mit der Schelde.
Bei Antwerpen, wo ich sie vorfand, ist die Schelde ein breiter, mächtiger und stattlicher Fluss und wälzt eine mächtige Wassermasse. Wenn größere Kriegsschiffe sich präsentieren, dann nimmt sie sie mit, sie ist ein Fluss, ein echter.
Ich beschloss, eins zu werden mit ihr. Ich hielt mich zu jeder Tageszeit am Quai auf. Doch ich verzettelte mich in zahlreichen unnützen Blickwinkeln.
Und dann, ohne dass ich‘s wollte, sah ich mir von Zeit zu Zeit die Frauen an, und das – das erlaubt kein Fluss, und auch kein Apfel erlaubt das, noch sonst irgend ein Ding in der Natur. Also die Schelde und tausend Eindrücke. Was tun? Auf einmal, nachdem ich auf alles verzichtet hatte, befand ich mich …, ich will nicht sagen, an ihrer Stelle, denn, um bei der Wahrheit zu bleiben, ganz so weit ist es nie gekommen. Sie fließt unaufhörlich (da liegt eine große Schwierigkeit) und gleitet auf Holland zu, wo sie das Meer vorfinden wird und die Höhe Null.
Von da komme ich zum Apfel. Auch hier gab es noch Tastversuche, Experimente; das ist eine lange Geschichte. Losgehen ist nicht sehr bequem, es erklären ebensowenig.
Aber mit einem Wort kann ich es euch sagen. Leiden ist das Wort.
Als ich im Apfel ankam, war ich eiskalt.

Eine der berühmtesten Schöpfungen Michaux’ aus den 30er Jahren ist sein Monsieur Plume, der zu einer ganzen Gruppe von erfundenen Geschöpfen gehört, die Michaux »Puffer-Personen« nennt, Erfindungen, die sich zwischen ihren Erfinder und die Realität stellen, um ihn zu schützen. An diesem Plume werden nun modellhaft bestimmte Abläufe demonstriert, alltägliche, komische, erotische, alptraumhafte, gewalttätige Abläufe, in deren unausweichlicher Zwanghaftigkeit sich unsere Auffassung von Welt bloßlegt.

»Immer in die Zwischenräume, ohne sich je zu fixieren, drängte der Autor sein Leben«, schrieb Michaux zu einer früheren Auswahl seiner Plume-Geschichten. Diese unsichere Position, ohne feste Identitäten, ständig neu zu entwerfen und neu zu erfahren, ist gleichzeitig der Ort von Michaux’ Kunst, die sich im Zeitraum der hier versammelten Texte endgültig vom Surrealismus ablöste und neue Räume erkundete.

Dieser Band enthält neben allerlei Verstreutem die größeren Werkkomplexe Lointain intérieur, Un certain Plume, Tu vas être père und Épreuves, exorcismes, also die Arbeiten zwischen 1930 und den frühen 40er-Jahren, wie sie die Ausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade präsentiert; zum Teil greift sie auf die Übersetzungen von Paul Celan und Kurt Leonhard zurück, die in den 50er- und 60er-Jahren erschienen waren.

Presse

»Ein schriftstellerisches Unternehmen, das nur wenig Vergleichbares in der Gegenwartsliteratur hat.« (Helmut Heißenbüttel)

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