Buchcover
Gerald Bisinger

Dieser Tratsch

Gedichte
1999
gebunden , 13 x 21 cm
80 Seiten
ISBN: 9783854205159
€ 15,50

AUTOREN

Textauszug

Gedicht III (Unentschlossen)
Teil 2

In Berlin-Friedrichshagen sitze ich
heute eine Linde vor mir und die
S-Bahn-Trasse im Vorgarten einer
BIERSTUBE so nennt das Lokal sich
bin die Bölschestraße entlang gegan-
gen vom Bahnhof bis zum Müggelseedamm
und wieder zurück jetzt ruh ich mich
aus hab verfallne und frisch renovier-
te und auch bloß vergammelte Häuser
gesehn ebenerdig und ein- und zwei-
stöckig zumeist vor allem von Linden
ist die Straße gesäumt 65 war zuletzt
ich in Friedrichshagen vor Johannes
Bobrowskis Tod hab ihn besucht das
Wohnhaus wieder zu finden nicht ange-
strebt heute nicht den Friedhof auf dem
an Bobrowskis Beerdigung ich seinerzeit
teilnahm unter den Trauergästen ich er-
innere mich befand sich auch Ingeborg
Bachmann von der Stimmung insgesamt über-
wältigt erlitt Elfriede mit der ich da-
mals verheiratet war einen Weinkrampf
65 im Herbst aus Charlottenburg war mit
Hubert Fichte nach Friedrichshagen heraus
ich gefahren zu Johannes Bobrowskis Beer-
digung (auch Fichte ist tot schon) heute
denk daran ich ich lebe ich trink als
Berlin-Besucher jetzt Bier

Berlin, den 2. August 1993

Dieser Band schließt unmittelbar an die Gedichte aus Ein alter Dichter an, im Sommer 1993. Gerald Bisinger arbeitet an der kontinuierlichen Fortführung seines Projekts, das die stets wiederkehrenden, elementarsten Bewegungen der Biografie in ebenso elementare poetische Zeilen transformiert.

Auch in Dieser Tratsch sind es Reisen und Ortswechsel zwischen wenigen mitteleuropäischen Städten (Wien, Berlin, Prag, Bratislava), sind es die Momente des Innehaltens in Cafés und Gasthäusern, sind es diese wie eingefrorenen Bilder des Rauchens und Trinkens, des Anschauens und Sinnierens. Verstärkt hat sich aber die Zahl der Gedichte, in denen Krankheit und Tod angesprochen werden und der Vorgang des Erinnerns und Gedenkens gebannt wird – auch der Titel dieses Bandes weist in diese Richtung: er ist einem Gedicht aus Allen Ginsbergs Kaddish entnommen.

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