Buchcover
Eleonore Frey

Aus Übersee

Ein Bericht
2001
gebunden , 13 x 21 cm
182 Seiten
ISBN: 9783854205562
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Ich bin am Rand, hörte ich eines Tages meinen Vater am Telefon sagen. Es war an einem Trauertag. Die Mutter war noch nicht zurückgekehrt. Ich wußte nicht, mit wem mein Vater sprach. Nur daß er am Rand war. Als ich am nächsten Tag zur Schule ging, ging ich neben dem Läufer die Treppe hinab, auf ihrem steinernen Rand der Wand nach alle fünf Etagen hinab und dann den Wänden nach rund um den Hof und durchs Durchhaus hinaus auf die Straße. Dort ging ich, sorgfältig auf dem Randstein, wo es darum ging, auf keinen Fall auf eine der Fugen zwischen den Steinen zu treten, meinen gewohnten Weg. Wo er verstellt war durch ein Fahrrad, einen Abfallsack, wich ich aus auf die Fahrbahn, über den Rand hinaus in die Gefahr. Gestern war mein Vater am Rand. Heute bin ich schon einen Schritt weiter, dachte ich und geriet beinahe unter einen Lastwagen. Der Lastwagenfahrer fluchte, ein Passant half mir auf, ein Kind suchte die Bücher und Hefte zusammen, die da und dort auf der Straße lagen, und der Passant, der mir aufgeholfen hatte – ein älterer Herr mit Weste und Uhrkette –, sagte: Mein liebes Kind, paß auf dich auf. Ich wäre am liebsten in der Erde versunken. Ich wischte den Staub vom Rock und sagte: Ich bin kein Kind. Wer träumt, ist ein Kind, mein Fräulein, sagte der ältere Herr. Meine Strümpfe waren zerrissen. So konnte ich nicht zur Schule gehen. So mußte ich zur Schule gehen, was blieb mir anderes übrig, und alle würden mich auslachen. Ich machte einen Umweg. Als ich in der Schule ankam, war es zu spät, und ich ging auf einem Umweg nach Hause; den Rändern entlang rund um den Park. Zuhause traf ich ein zur gewohnten Zeit. Kind, wie siehst du aus! sagte Agnes und verband mir mein blutiges Knie. Und: Wenn sich nun das Fräulein waschen wollte. Ich bin kein Fräulein, sagte ich. Ich bin am Rand.

Die Malerin Dora Blum ist ausgewandert und lebt in den Vereinigten Staaten. Sie hat aufgehört zu malen (»es kommt schon wieder, sagen mir alle; sie hat eine Krise, sagen sie sich«), nachdem drüben, in ihrer Heimatstadt, etwas vorge­fallen ist.

Aus Übersee ist der »Bericht« der Erzählerin von dem, was sich ereignet hat: Kindheit, Jugend, Freundschaft und Liebe, Verletzungen, Katastrophen und Zusammenbrüche, die sich der Erinnerung und dem Aufschreiben entziehen. Wie in Max Frischs Stiller wird ›Übersee‹ zu dem Ort, an dem sich eine Identität im Erzählen erst wieder bilden kann. »Es sei vielleicht doch nicht alles so gewesen, wie ich es hier beschrieben habe«, scheint es der Erzählerin Dora bei der Revision ihrer Erinnerungen. Aber dennoch setzt sich langsam, vorsichtig – und auch mit der gebührenden Ironie – das Lebensbild einer Frau zusammen, die soweit zerbrochen ist, dass sie sich schließlich in der Psychia­trie wiederfindet.

Eleonore Frey schreibt eine einzigartige Prosa, von äußerster Musikalität und Rhythmik, sie verwebt ihre Motive mit größter Kunstfertigkeit, und ihre Sensibilität für Klang und »Fleisch« der Wörter, für die Ökonomie der Sätze ist schon von vielen gerühmt worden. Der sanfte Ton dieser Prosa macht die Risse und Disharmonien in den Lebens­entwürfen ihrer Personen noch viel schmerzhafter. Das bloße Erzählen scheint das Nicht-Erzählbare wieder zusammenzukitten – und dieser Paradoxie ist sich die Erzählerin Frey auch bewusst. Es gilt, den Abstand zwischen diesem Wissen einerseits und der Achtung und dem Mitgefühl gegenüber den (fiktiven) Lebensentwürfen andererseits zu überbrücken.

Presse

»Wer Eleonore Frey kennt, wird ihn wiederfinden, diesen bedächtig-intensiven, magischen Ton.« (Salzburger Nachrichten)

»In schwebender Präzision beschreibt sie den Weg in Entfremdung und Verhängnis« (Bruno Steiger, Neue Luzerner Zeitung)

»Die stockende Seelenanalyse gibt ein faszinierendes Portrait ab.« (Beatrice von Matt, NZZ)

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