Buchcover
Anna Kim

Die gefrorene Zeit

Roman
2008
gebunden , 13 x 21 cm
152 Seiten
ISBN: 9783854207429
€ 18,00
als ebook erhältlich

AUTOREN

Textauszug

Vermissen ist eine Form des Erinnerns, sagst du. Es ist abhängig von der Qualität des Gedächtnisses, vergisst man leicht, vermisst man weniger. Diese Gleichung geht nicht auf, du vermisst manchmal Menschen, Situationen, die du nie kennengelernt hast, in die du nie geraten durftest; dann vermisst du die Vorstellung von etwas, das es in Wirklichkeit nie gab, du vermisst nichts, das unendlich viel ist, und gerade weil es nie wirklich wurde, kannst du das Vermissen selbst nicht aufgeben.
Du hast einmal gesagt, vermissen sei wie eine Schwarz-Weiß-Fotografie, die unfreiwillig und ungeschickt nachkoloriert wurde, sodass manche Farben stärker ins Auge stechen als andere, manche Bereiche wiederum fast unsichtbar sind; und war nicht auch die Rede von Gestank, schrecklichem Gestank, der dich verfolgt, nicht bloß einen Kanaldeckel lang? All das beschreibt es nicht annähernd, nicht wahr, vermissen ist schließlich das langsame Verlieren im vollen Bewusstsein des Verlierens, die Art und Weise, wie sich der Verlust eines Teils deiner Identität äußert, daher auch das Warten, verzweifelte Warten, Hoffen auf Heilung, Hoffen auf das Rückgängigmachen der Trennung.
So sitzt du vor dem Fenster, in dem sich Zeit anders verhält, als du es bisher gewohnt warst, und gleitest schließlich hinein. Plötzlich gibt es nur noch Zeit, alles Tun löst sich auf in Zeit, wird von ihr verdünnt, existiert nicht mehr oder vegetiert als Schatten seiner selbst. Und es ist dir Recht, denn deine ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf den Moment der Wiedervereinigung, nie geht es dir um die ersten drei Wochen oder Jahre, die zukünftigere Zukunft, denn es gibt sie nicht, deine Zukunft endet mit dem Auftauchen von Fahrie, ach Unsinn, natürlich gibt es sie, sie ist nur noch nicht relevant, alle Pläne warten mit dir, mit euch –
allmächtiges Warten: Beim Warten übernimmt Dauer dein Leben. Dauer teilt sich unablässig, ohne sich wesentlich zu verändern; sie bewahrt und häuft Vergangenheit in der Gegenwart an, somit ist sie ebenfalls ein Gedächtnis, das eine Mehrzahl von Augenblicken zu einem zusammenzieht. Dauer kann mit sich selbst verschmelzen, sie kann aber auch andere entdecken, sie aufsaugen und sich ausweiten. Sie kontrolliert alles, und alles, was von ihr ablenkt, wird gestrichen; sie streicht allmählich dein Leben zusammen.
Dieses Warten, sagst du, ist unverzeihlich.

Seit dem Ende des Krieges im ehemaligen Jugoslawien wurden dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes mehr als 30.000 Menschen als vermisst gemeldet. Bis heute konnten nur etwa 15.000 Personen identifiziert werden.

Das ist der Hintergrund der Geschichte, die Anna Kim in ihrem zweiten Buch erzählt: die Suche eines Kosovaren nach seiner verschwundenen Frau und das allmähliche Eindringen der Ich-Erzählerin in die komplexen Zusammenhänge hinter diesem traumatisierenden Ereignis. Sie lernt nicht nur das alltägliche Leben in den albanisch-serbischen Konfliktzonen des Kosovo kennen, die schockierende Arbeit der Archäologen und forensischen Mediziner und Anthropologen, die Fragebögen zur Erhebung der »Ante-Mortem-Daten« des Roten Kreuzes – es öffnen sich vor allem die Dimensionen von Erinnerung und Erinnerungsverlust, von unterbrochenen Biografien, von »gefrorener Zeit«.

Aber nicht nur die Zeitgeschichte ist es, was sie interessiert, sondern die sprachliche Abbildbarkeit eines unverständlichen Schreckens, die Frage nach den richtigen Wörtern und Sätzen für das ›ganz Andere‹.

Presse

»Ein ergreifender Roman.« (FAZ)

»Ein Roman von eindringlicher Kraft, ein Werk, das so poetisch wie deutlich ist, das die genaue Recherche so wenig gescheut hat wie formale Experimente.« (Paul Jandl, NZZ)

»Anna Kim findet für ihr so aktuelles und politisches Buch eine zarte, fast lyrische Sprache, die Zwischentöne zulässt.« (Thomas Rothschild, Die Presse)

»Kim gelingt durch ihre zurückhaltende Sprache der Versuch, ein Stück Weltpolitik und nunmehr auch schon Geschichte durch die literarische Aufarbeitung von Einzelschicksalen (be)greifbar zu machen.« (Edgar Schütz, APA)

»Anna Kim hat einen eindrucksvollen Text vorgelegt und hat für die Schrecken des Krieges ebenso eine adäquate Sprache gefunden wie für die Freuden und Kümmernisse des Alltags.« (Gerhard Pretting, Ö1)

»Mit ungeheurer Sensibilität ringt Anna Kim um die ›richtigen‹ Worte für das stumme Leiden.« (Brigitte)

»Gefrorene Zeit ist eine eindringliche Metapher für den erzwungenen Stillstand des Lebens, wenn die Geliebte fehlt, wenn weder Vor noch Zurück, weder Vergessen noch Verzeihen möglich scheinen. Kunstreich geschrieben und sehr berührend.« (Echo)

»Ein literarisches Glanzstück für all jene, die an glaubwürdiger politischer Literatur interessiert sind.« (Martin Jäger, Bibliotheksnachrichten)

»Es ist viel Grauen in Kims Buch, aber auch viel Liebe. Ein gründlich recherchiertes, sprachlich ambitioniertes Buch, das ein Thema aufgreift, das von der österreichischen Literatur bislang sträflich vernachlässigt wurde.« (Bücherschau)

European Union Literature Prize 2012
Heinrich-Treichl-Preis 2009 des Österr. Roten Kreuzes

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