Buchcover
Thomas Stangl

Reisen und Gespenster

Essays, Reden und Erzählungen
2012
gebunden , 13 x 21 cm
240 Seiten
mit zahlreichen Schwarz-Weißfotos
ISBN: 9783854207917
€ 22,00
als ebook erhältlich

AUTOREN

Textauszug

Sind wir eigentlich Punks oder Anarchisten, fragt ihn sein Freund, während sie in der Großen Pause auf ihren Tischen sitzen und die Beine in die Luft hängen lassen, naja, sagt er, vielleicht Anarchisten. Später vor dem Einschlafen fällt ihm ein, sie können keine Punks sein, weil das eine Lebensform ist und sie nicht leben wie Punks, Anarchisten können sie sein, ohne irgendetwas zu tun, also sind sie Anarchisten.
Er ist sich andererseits nicht sicher, ob sich sein Freund nicht über ihn lustig gemacht hat (er ist nie sicher, ob man im Ernst zu ihm spricht oder sich über ihn lustig macht; er kann nämlich nicht glauben, dass die anderen auch so wenig Ahnung haben wie er: im Zweifelsfall lächelt er unsicher statt Antworten zu geben). Vielleicht, würde er ein paar Jahrzehnte später denken, hat ihn sein Freund auch gefragt, ob sie Hippies sind oder Anarchisten, es ist sogar wahrscheinlicher, seine Sympathien für Punks und Hippies sind zu dieser Zeit gleich groß und gleich vage, beide stehen sie für ein anderes Leben, den Reiz und die Gefahr eines anderen Lebens, er hat nicht begriffen, warum die Punks so sehr die Hippies hassen, er ist für Liebe und für Zerstörung.
Er geht nach Hause, isst, was seine Mutter für ihn gekocht hat, legt sich nach dem Essen aufs Bett und liest den Kurzen Sommer der Anarchie von Hans Magnus Enzensberger: er weiß genau, was die Abkürzungen POUM, CNT, FAI bedeuten und dass die herrschende Ordnung vernichtet werden muss. Wenn er nicht Radio hört, legt er eine Platte auf: When the law breaks in, how you’re gonna go, shot down on the pavement or waiting in death row, fragt ihn düster Joe Strummer, er mag den Namen The Clash: es verlangt ihn nach einem Schlag, der alles zersprengt: nicht nur die Gegenstände und Formen, die ganze Atmosphäre; das, was er »die Gesellschaft« nennt und was weniger aus Menschen besteht als aus herumziehenden, sich von Kopf zu Kopf fortpflanzenden zähen Gedanken und Gemeinheiten. Gleich am Anfang der Platte ruft ihn die Katastrophe: London is drowning and I live by the river, singt Joe Strummer mit sich überschlagender Stimme; er steht frühmorgens verschlafen zwischen feixenden Kindern und keifenden Greisen in der Straßenbahn, der Himmel ist schmutzig und gelb, er sieht die Straßenbahn entgleisen und, während er durchs Schiebefenster gleitet und davonschwimmt, im Fluss, unter dem Meer verschwinden. Er ist allein in der Wohnung, seiner eigenen Wohnung, ganz nah an der Themse oder am Meer, liegt in seinem Bett und schläft, aber nur mit einer Hälfte seines Hirnes.

Reisen und Gespenster ist eine Sammlung mit meisterhaften Aufsätzen und essayartigen Prosastücken, angefangen mit einer der ersten Veröffentlichungen Stangls, einem Bericht über eine Reise nach Nordwestmexiko auf den Spuren von Antonin Artaud, bis zu unveröffentlichten semi-fiktionalen Tagebucheintragungen (die ebenfalls in Mexiko spielen).

Thomas Stangl gibt in diesem Band Einblick in seine Werkstatt und gleichzeitig Auskunft über die Literatur. Es geht um Landschaften, um Filme und Bilder, um Songs und Bücher, und immer stehen im Zentrum solche Ausnahmezustände wie Reisen oder Krankheit, für die diese Halbwachzustände des Geistes, dieses Wegdriften und gleichzeitig Sich-Öffnen der Aufmerksamkeit so bestimmend sind, die wir auch in den zentralen Passagen seiner Romane finden. »Lange Zeit habe ich mich bemüht, nur schriftlich zu existieren«, so beginnt ein Text, der die existenzielle Wichtigkeit von Literatur auf nahezu körperliche Weise spürbar macht.

Die Komplexität und Schönheit von Stangls Sätzen sind in allen Texten dieses Bandes evident, egal ob er von der elenden finanziellen Misere des werdenden Schriftstellers erzählt oder von einem Besuch in einem Pflegeheim für Demenzkranke, der Porträtkunst großer Maler nachspürt oder dem Werk des verrückten Schriftstellers Raymond Roussel: diese Texte sind ein Muss für alle an wahrhaft intensiver Literatur interessierte Leser, denn »vielleicht gibt es keine schönere, offenere, unverbohrtere Art, die Natur, das Eigene, die anderen zu finden, als die Literatur. Es muss in ihr um etwas gehen, das mehr ist als das, was man aufschreiben kann, das es aber, ohne dass es aufgeschrieben ist, ohne die Form, nicht geben würde (es muss um Literatur gehen, damit es um mehr als Literatur gehen kann).«

Presse

»Brillante Essays (…) Stangl verfügt über die seltene Fähigkeit, Tiefgang mit Leichtfüssigkeit und Eleganz zu kombinieren.« (Georg Renöckl, NZZ)

»G’scheit ist schön, Nestroys Bonmot gilt für dieses Buch, in dem sich dem wunderbaren Erzähler der noble Intellektuelle zugesellt.« (Sibylle Cramer, Süddeutsche Zeitung)

»Die Bewegung durch diese Texte schärft die Sinne.« (René Becher, Buchund.de)

»Detailreich, sinnlich und sprachgewaltig streift Thomas Stangl die existentiellen Dimensionen von Leben und Welt, die im Medium der Sprache erfahren und erfasst werden.« (Petra Nagenkögel, Literaturhaus Salzburg)

»Dieser Band gibt einen guten Überblick, was diesen Autor seit seinen Anfängen umtreibt, was für eine Schreibarbeit dem ersten Roman Der einzige Ort voranging und dann nicht mehr aufhörte.« (Karl Wagner, Falter)

»Thomas Stangl geht aufs Ganze. Ihn interessiert, wie das Beobachtete, die ›Welt‹, zur Erfahrung, zu Sprache werden kann.« (Wolfgang Straub, Die Presse)

»Literatur ist für Stangl ›Spekulation auf ein anderes Leben‹. Dass diese Spekulation für den Schriftsteller am Ende aufgegangen ist, ist wunderbar und ein großes Glück.« (Barbara Eisenmann, SWR2)

»Eine fulminante Reise durch Städte und Landschaften, durch Gedächtnisspuren und Zustände« (Barbara Zeizinger, fixpoetry)

»Man findet eine Präzision in seinen Worten, die eine besondere Beobachtungsgabe evident werden lässt. Beim Lesen schlägt einem regelrecht eine Lawine der Sprachgewalt in einer Dichte entgegen, die beeindruckt.« (Christopher Heil, literaturkritik.de)

»Es ist wunderbare, großartige, intensive Prosa, mit der Thomas Stangl wahrhaftigen, großen, intensiven Momenten in Büchern, in Filmen, in Bildern und in Landschaften nachspürt.« (Simon Berger, Bücherschau)

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