Buchcover
Almut Tina Schmidt

Auswachsen

Erzählung
2002
gebunden , 13 x 21 cm
184 Seiten
ISBN: 9783854206095
€ 19,00

AUTOREN

Textauszug

Zu hören ist der Fernseher nur bei den Nachbarn. Hinter dem Vorhang brennt kein Licht. Das spart Strom. Und ich weiß nicht einmal, wie Verwesung riecht. Frisch gebohnert, sagt die Pappe am Treppenabsatz. Ich weiß nicht einmal, wie Bohnerwachs riecht.
Für die Leiche hinter der Tür macht das sowieso keinen Unterschied. Da geht es um jede Sekunde. Was soll ich da noch falsch machen.
Und ich klingle wieder und weiß, jetzt wird die Leiche mir öffnen, das Schrillen weckt sie, einen Moment lang starrt sie benommen vor sich hin, da klingle ich wieder, und sie kommt zu sich, sie kommt langsam, Schritt für Schritt, um mir zu öffnen, Schritt für Schritt höre ich den Holzboden knarren, die Leiche seufzt, sie trägt schwere Taschen rechts und links, stellt sie ab, nimmt sie wieder auf, so steigt Stufe um Stufe eine gut gefüllte gestreifte Bluse, eine Frau mit schwarzem Rock und schweren Schuhen die Treppe hinter mir hoch und bemerkt an meiner Stelle eine Einbrecherin, Spendeneintreiberin, Anlageberaterin, Zeitschriftenverkäuferin, die zuviel lächelt, und sie lächelt nicht zurück, sondern sucht ihren Schlüssel und verschwindet hinter der Nachbartür. Auf dem getöpferten Schild lachen vier Igel, und hinter der Tür brüllt es, kannst du den Apparat nicht leiser stellen, und ich höre, durch die Türen hörst du jedes Wort, aber ich kann immer noch nichts hören und habe vergessen, die Igelfrau zu fragen, ob ich bei ihr telefonieren kann.
Aber als sich ihre Schritte wieder nähern, die Tür aufgerissen wird, drehe ich mich um, bevor sie ihren Kopf rausstecken kann, und steige die Treppe hinunter, bis in den dritten Stock, da gibt es drei Schilder, die sagen Mack, Deyer und Troplinowitz, die lese ich ohne Atem, bis eine Tür geht und ich Stufe für Stufe wieder nach oben steige, klingle, und die Leiche ist immer noch tot.
Aber was weiß ich denn. Vielleicht riecht es nicht einmal nach Urin. Kein Fernseher ist zu hören. Ich lehne mich gegen das Türschloß, drücke fest und rüttle leicht und höre innen Schlüssel aneinanderklirren und kann nicht einmal einbrechen und schlage mit der Faust aufs Glas und trete gegen das Schloß, da klimpert eine Kette, ein Riegel verschiebt sich, das Glas zittert und ich renne die Treppe hinunter. Im dritten Stock öffnet sich eine Tür.

Eine junge Frau im Übergangsbereich zwischen Schule und der Zeit danach; ob sie studieren wird und wo, ist noch sicher. Sie arbeitet, vorübergehend, als Altenpflegerin und betreut einige Senioren in ihren Wohnungen, sie hat Schwierigkeiten mit ihrer Freundin Bianka, und sie lebt in wachsender Distanz zu ihren Eltern. Es passiert nicht viel.

Außergewöhnlich ist die Form, in der tägliche Gesprächsmüll, die Konversationen, die Redundanzen des allgegenwärtigen Geredes in dieser Erzählung erscheinen, verschärft noch durch die oft schrägen Befindlichkeiten der Klienten in der Altenpflege – in einer unsentimentalen, genauen und vor allem wohltuend unironischen Erzählweise, die Almut Tina Schmidt 1999 auch den renommierten open mike-Preis einbrachte.

Presse

»Ein Buch, das sich auf ästhetische Risiken einlässt, anstatt konventionell zu erzählen, das Gegenpositionen bezieht, ohne belehren zu wollen, das den Leser mitnimmt, ihn aber nicht bevormundet. Geschrieben von einer Autorin, deren Beobachtungsgabe und Sprachgefühl beeindruckend sind…« (Bernd Flessner)

»Die Icherzählerin aus Auswachsen ist weder überdreht noch sexbesessen, sondern eine eher unscheinbare Person, die sich selbst nicht sonderlich wichtig nimmt, ihre Umwelt dafür umso genauer beobachtet.« (Wolfgang Kralicek, Der Falter)

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